Affektive Störungen mit Hauptschwerpunkt auf suizidalem und aggressivem Verhalten

Es existiert eine existentielle Überlappung nicht nur psychischer Symptome innerhalb psychiatrischer Erkrankungen, sie teilen auch eine substantielle Anzahl genetischer Risikovarianten. Diese Ergebnisse aus krankheitsübergreifenden Untersuchungen könnten für die Überarbeitung der Nosologie unterstützend verwendet werden.

Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium (2013) Genetic relationship between five psychiatric disorders estimated from genome-wide SNPs. Nat Genet. Sep; 45(9): 984-94.

Insbesondere liegt die Konzentration auf der Genetik und Neurobiologie affektiver Störungen mit Hauptschwerpunkt suizidales und aggressives Verhalten. Suizidales Verhalten besitzt eine genetische Komponente, die unabhängig von psychiatrischen Erkrankungen ist. Insbesondere liegt hierbei der Fokus auf Persönlichkeitseigenschaften, Temperament und Verhalten, wie z. B. impulsiv-aggressivem Verhalten als Risikofaktor für Suizidalität, aber auch von Aggressivität und Gewaltbereitschaft in der Allgemeinbevölkerung.

Mittels machine learning Algorithmen konnten unter Verwendung genomweiter Assoziationsstudien und des Temperament Charakter Inventars (TCI) 5 Persönlichkeitsprofile identifiziert werden, für die spezifische SNP Sets charakteristisch waren. Diese Sets zeigten eine Häufung in Genen, für die ein Zusammenhang mit intentionaler Zielsetzung, Selbstreflektion, Empathie und episodischem Gedächtnis und Lernen bekannt ist (Zwir et al. 2018). In einer weiteren Studie mit gleichem Aufbau und Fokus auf Temperament konnten mehr als 700 Gene identifiziert werden, die eine Modulation der molekularen Mechanismen der assoziativen Konditionierung bewirken, die nach Ergebnissen aus Tierstudien mit dem Temperament in Zusammenhang steht (Zwir et al. 2018). In beiden Studien war der Einfluss von Umgebungsvariablen in Kindheit und Erwachsenenalter zwar klein, aber signifikant.

Zwir I et al. (2018) Uncovering the complex genetics of human character. Mol Psychiatry. Oct 3:. doi: 10.1038/s41380-018-0263-6

Zwir I et al. (2018) Uncovering the complex genetics of human temperament. Mol Psychiatry. Oct 2:. doi: 10.1038/s41380-018-0264-5.

Es konnte eine Reihe von Kandidatengenen identifiziert werden, die eine Assoziation mit suizidalem Verhalten und intermediären Phänotypen aufweisen. So zeigt eine Serie von Genen im Zusammenhang mit Aggressions-assoziiertem Verhalten in einer großen genetischen Fall-Kontrollstudie Zusammenhänge mit suizidalem Verhalten und intermediären Persönlichkeitsphänotypen.

Der aus Tierexperimenten bekannte Zusammenhang zwischen einer Überexpression des Transkriptionsfaktors Mecp2 und verstärkter Aggressivität konnte in einer phänotypbasierten genetischen Assoziationsstudie (PGAS) mit Schizophreniepatienten durch Identifikation von funktionellen, die mRNA Expression beeinflussenden Risikoallelen im MECP2 Gen bestätigt werden (Tantra et al. 2014).

Darüber hinaus wurde mittels Hochdurchsatzgenotypisierung eine Vielzahl von genetischen Variationen in weiteren Genen bestimmt, die in knock out Mäusen Aggressions-assoziiertes Verhalten beeinflussen. Weiterhin wurde die differenzielle Genexpression von ca. 15.000 Genen in post mortem Gehirnen von Suizidpatienten und Kontrollen untersucht und für neun Gene (S100A13, EFEMP1, PCDHB5, PDGFRB, CDCA7L, SCN2B, PTPRR, MLC1 und ZFP36) ein Expressionsunterschied zwischen Suizidpatienten und Kontrollen festgestellt (Thalmeier et al. 2008). Für eine Auswahl von 84 Varianten in diesen Genen konnte jedoch nur für EFEMP1 und PTPRR ein schwacher Zusammenhang zu dem Krankheitsstatus „Suizidales Verhalten“, sowie Ärgerausdrucksverhalten, Depression, Angst und Fatigue festgestellt werden (Balestri et al. 2017).

In einer ersten genomweiten Assoziationsstudie zu suizid-assoziierten Persönlichkeitseigenschaften konnte unter Verwendung von Replikationsschritten schon frühzeitig MAMDC1 als ein mit Neurotizismus assoziiertes Gen identifiziert werden.

Van den Oord EJ et al. (2008) Genomewide association analysis followed by a replication study implicates a novel candidate gene for neuroticism. Arch Gen Psychiatry. Sep; 65(9): 1062-71.

Eine Metaanalyse mit mehr als 70.000 Probanden konnte eine Variante im MAGI1 Gen, welches in früheren Studien mit Schizophrenie und Bipolarer Störung in Zusammenhang gebracht worden war, genomweit signifikant ebenfalls mit Neurotizismus assoziieren (Genetics of Personality Consortium et al. 2015), während eine ähnlich Studie für Extraversion keine genomweiten Treffer messen konnte (Van den Berg et al. (2016).

  • Genetics of Personality Consortium et al. (2015) Meta-analysis of Genome-wide Association Studies for Neuroticism, and the Polygenic Association With Major Depressive Disorder. JAMA Psychiatry. Jul:72(7):642-50. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2015.0554.

In Kooperation mit der Columbia University und basierend auf einem vom NIH geförderten Antrag konnte in einer genomweiten Assoziationsstudie zu suizidalem Verhalten zwar keine genomweit signifikanten Treffer, jedoch Hinweise (p<10-5) für eine Beteiligung der Gene ADAMTS14 und PSME2 (beide involviert in inflammatorische Prozesse), STK3 (neuronaler Zelltod) und TBX20 (Entwicklung von Motoneuronen des Hirnstamms) identifiziert werden (Galfalvy et al. 2015).

  • 2008: National Institutes of Health: 1R01MH082182-01A1: Suicidal Behavior in Mood Disorders: Genes and Intermediate Phenotypes, Principal Applicant Prof. J.J. Mann, USA (Rujescu: Principal Investigator).

Eine Studie zum Zusammenhang von seltenen strukturellen Variationen (copy number variations, CNVs) mit suizidalem Verhalten ergab dagegen keine signifikanten Ergebnisse, so dass aktuell davon auszugehen ist, dass diese hier ein untergeordnete Rolle spielen (Gross et al. 2015).

Virusinfektionen gewinnen als Risikofaktoren oder kausale Faktoren für neurologische und psychiatrische Erkrankungen zunehmend an Bedeutung (Rujescu et al. 2018). So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass eine latente chronische Infektion mit Toxoplasma gondii, von der ein Zusammenhang zu suicidal self-directed violence (SSDV) bekannt ist, in Frauen mit erhöhten Aggressivitätswerten assoziiert ist, in Männern unter 60 Jahren dagegen mit höheren Werten für impulsives sensation-seeking (Cook et al. 2015). Dieser Zusammenhang könnte in von T. gondii Infektion betroffenen jüngeren Männern durch eine hohes Phenylalanin:Tyrosin Verhältnis, beides Vorläuferprodukte der Dopaminsynthese, reflektiert werden (Peng et al. 2018). Für ältere Männer (ab 60 J.) konnte eine eine positive Korrelation des Phe:Tyr Verhältnisses mit Aggression nachgewiesen werden. Dies ist insbesondere interessant, da aggressives Verhalten durch dopaminerge Neurotransmission beeinflusst und der Dopaminspiegel möglicherweise durch die T. gondii eigene Dopaminproduktion erhöht wird (Mathai et al. 2016).

Prof. Dr. Dan Rujescu ist zudem Mitglied des Lenkungsgremiums „Molekulargenetik“ des BMBF-geförderten Kompetenznetzes „Depression/Suizidalität“, der Sektion “Suicidology” der Association of European Psychiatrists, Chair der Task Force „Genetics of Suicide“ der International Association for Suicide Prevention (IASP), Mitglied des Referates “Suizidologie” der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der International Academy of Suicide Research (IASR), des ECNP-Network on Research in Suicidology, sowie der “Reference group on clinical guidance for the risk assessment, care and treatment of suicidal patients“ der European Psychiatric Association (EPA).